Campi´s Corner: "Streiflichter aus Amerika"
von Thomas Badtke

Moin,

für die erste Kolumne des Jahres 2003 dachte ich mir, einfach einmal ganz auf die Themen Wirtschaft und Politik zu verzichten. Zum einen, weil über die Weihnachtstage nicht sonderlich viel, sowohl in der Wirtschaft (mal abgesehen vom Einzelhandel und Gaststättengewerbe), als auch in der Politik, passiert ist. Zumindest wo das Interesse auch Ihrerseits bestünde, dass man über solch ein Thema etwas schreiben müsse. Falls Sie also Anregungen haben oder Kritik üben möchten, können sie dies natürlich tun. Ich bin für alles zugänglich.
Aber zurück zu den Weihnachtsfeiertagen. Wie in jedem Jahr, egal wie gut die Vorsätze aus dem vergangenen auch gewesen sein mögen, schlemmt man zuviel, trinkt über den Durst, schläft im Allgemeinen zu lange und rüstet sich damit für den noch ausstehenden harten Winter mit ein paar zusätzlichen Rollen an Winterspeck. Das ist das normale an Weihnachten. Und man hat an Sylvester wieder die Gelegenheit, sich gute Vorsätze für das neue Jahr auszudenken. Auch wenn sie nicht allzu lang halten werden. The same procedure as every year, James…

Die Zeit über die Feiertage kann man aber auch, vielleicht sollte man es auch auf jeden Fall, dazu nutzen, einmal wieder zu lesen. Das Fernsehprogramm hat man bereits vor Jahren im Kino gesehen und für Märchen ist man schlicht und ergreifend zu alt. Das Wetter war auch nicht wie Weihnachten, also greift man zu einem Buch. Das tat ich in einer Buchhandlung in Weimar und angelte mir, mehr aus Versehen, ein Buch, das da heißt: „Streiflichter aus Amerika - Die USA für Anfänger und Fortgeschrittene“. Sie ahnen bereits, wieso ich es dann gekauft habe. Das Reizwort heißt „Amerika“. Zudem verheißt einem der Klappentext nur gutes. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ meint darüber: „Ein überaus witziges, ein wunderbar ironisches Buch.“ Na, wenn das kein Hammerbuch ist...

Letzten Endes habe ich es gekauft. Es stammt von Bill Bryson, seines Zeichens ein Reiseschriftsteller. Er kehrte nach zwanzig Jahren, die er in der alten Welt, sprich England verbracht hat, in seine eigentliche Heimat zurück. Samt seiner Familie zog er nach Hanover in New Hampshire (Amerika) und nimmt dort als Kolumnist den amerikanischen Alltag unter die Lupe. Er gibt Einblicke in die amerikanische Bürokratie, wohingegen selbst die deutsche, glauben sie es mir oder nicht, eine wahrhaft unbürokratische zu sein scheint. Bryson schreibt aber auch über Themen aus der Wirtschaft, die horrenden Staatsschulden der USA, die Probleme, die er mit AT&T hatte und wohl noch immer hat, das amerikanische Verbraucherverhalten usw. Soviel zur Einstimmung. Als erste Kolumne dachte ich mir, dass ich ein Bryson-Streiflicht hier niederschreibe. Einfach nur, damit sie wenigstens am Anfang des Jahres einmal Grund zum Lachen haben, wenn sie die „Campi´s Corner“ im Investorweb besuchen. Und Weihnachten ist ja noch nicht solange her, vielleicht erkennen sie in den folgenden Zeilen auch einen Teil ihrer selbst wieder. Viel Spaß!

„Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen“

Es sind nur noch achtzehn kurze Tage bis zum Fest, und meine Frau kann jederzeit ins Zimmer treten und verkünden, dass es Zeit sei, den Weihnachtsschmuck hervorzuholen. Noch hat sie sich nicht gerührt, aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.
Ich hasse es, das Haus zu Weihnachten zu schmücken, weil es ja erstens bedeutet, dass ich auf den Dachboden krabbeln muss. Dachböden sind unangenehm schmutzige, dunkle Orte. Dort oben findet man immer Sachen, die man nicht finden will - ellenlange angeknabberte Stromkabel, Spalten zwischen den Dachpfannen, durch die man das Tageslicht sehen und bisweilen sogar den Kopf stecken kann, und Kistenweise Sammelsurium, das man in einem Augenblick geistiger Umnachtung dort hochgehievt hat. Allein dreierlei Dinge kann man gewiss sein, wenn man sich hinaufwagt: dass man sich mindestens zweimal an einem Balken den Schädel aufschlägt, dass man das Gesicht voller Spinnweben kriegt und dass man nicht findet, was man sucht. Doch der wahre Horror kommt, wenn man wieder hinunterklettern will. Dann stellt man nämlich fest, dass die Trittleiter mysteriöserweise einen Meter Richtung Badezimmertür gerückt ist. Man weiß ums Verrecken nicht, wie, aber so ist es immer. Also schiebt man die Beine durch die Luke und angelt blind mit den Füßen nach der Leiter. Wenn man das rechte Bein so weit ausstreckt, wie es geht, kommt man soeben mit seinem Zeh daran, was einem natürlich auch nicht viel nützt. Schließlich erkennt man, dass man erst einen Fuß und dann womöglich den anderen Fuß auf die oberste Sprosse kriegt, wenn man sie wie ein Turner am Barren hin- und herschwingt. Das ist freilich kein entscheidender Durchbruch, denn man liegt nun in einem Winkel von sechzig Grad und ist unfähig, irgend einen weiteren Fortschritt zu erzielen. Leise in sich hineingrummelnd versucht man mit den Füßen die Leiter näher zu ziehen, erreicht indes nur, dass sie krachend umkippt.

Jetzt steckt man ernsthaft in der Klemme. Man versucht sich zappelnd zurück auf den Dachboden zu manövrieren, aber die Kräfte versagen. Also bleibt man an den Achselhöhlen hängen und ruft die Gattin zu Hilfe. Doch sie hört einen nicht. Das ist sowohl frustrierend als auch seltsam. Normalerweise hört sie sonst Dinge, die sonst niemand hört. Zum Beispiel, dass zwei Zimmer weiter ein Klacks Marmelade auf den Teppich fällt oder man verschütteten Kaffee ganz stiekum mit einem guten Badehandtuch aufwischt oder Straßenschmutz auf einen sauberen Fußboden trägt. Ja, sie hört schon, wenn man nur an etwas denkt, das man nicht tun sollte. Hängt man jedoch in einer Dachluke fest, scheint sie urplötzlich in einer schalldichten Kammer verschwunden zu sein.

Wenn sie dann endlich mehr als eine Stunde später über den oberen Flur geht und einen da baumeln sieht, ist sie ganz verblüfft.
„Was machst du denn da?“ fragt sie nach einer Weile.
Man schielt zu ihr hinunter. „Dachlukenaerobic“, erwidert man einen winzigen Tick sarkastisch.
„Willst du die Leiter?“
„Mann, eine tolle Idee. Weißt du, ich hänge hier seit Ewigkeiten und versuche, darauf zu kommen, was mir fehlt, und du hast es auf Anhieb erkannt.“ Man hört, wie die Leiter zurechtgerückt wird, und spürt, wie die Füße die Sprossen hinuntergeleitet werden. Aber die Hängerei hat einem offensichtlich gut getan, denn jäh erinnert man sich, dass der Weihnachtsschmuck gar nicht auf dem Dachboden ist - auch nie dort war -, sondern in einem Pappkarton im Keller. Natürlich! Wie dumm, dass man daran nicht gedacht hat. Und schon saust man los.

Zwei Stunden später findet man das Gesuchte hinter ein paar alten Autoreifen und einem kaputten Kinderwagen versteckt. Man hievt den Karton nach oben und widmet zwei weitere Stunden dem Auseinanderfummeln von Lichterketten. Wenn man sie anschließt, funktionieren sie selbstverständlich nicht. Außer einer. Die schleudert einen in einem Funkenregen mit einem kräftigen Stoß rücklings gegen eine Wand und funktioniert dann auch nicht mehr.
Man beschließt, die Lichterketten sein zu lassen und den Baum aus der Garage zu holen. Der ist riesig und sticht. Man umklammert ihn unbeholfen, schleppt ihn brummend zur Hintertür, fällt ins Haus, rappelt sich wieder auf und drängt weiter. Während einem die Zweige in die Augen stechen, die Nadeln Wangen und Zahnfleisch durchlöchern und das Harz es irgendwie schafft, einem hinterrücks die Nase hoch zu laufen, tappt man durchs Zimmer, haut Bilder von den Wänden, räumt Tische ab und kippt Stühle um. Die Gattin, die eben noch so mysteriös unauffindbar war, ist nun überall auf einmal und dirigiert einen mit verwirrenden, energischen Zurufen: „Pass auf das Dingsda auf! Daher nicht - geh daher! Nach links! Nein, nicht von dir aus links - von mir aus!“ Schließlich sagt sie in sanfterem Ton: „Oooh, ist dir was passiert, Schatz? Hast du die Stufen nicht gesehen?“ Wenn man dann das Wohnzimmer erreicht hat, schaut nicht nur der Baum aus, als habe ihn saurer Regen entblättert, sondern man selbst auch.

Und genau in diesem Moment fällt einem ein, dass man keine Ahnung hat, wo der Weihnachtsbaumständer ist. Seufzend stapft man zum Eisenwarenladen in der Stadt und kauft einen neuen, wohlwissend, dass in den nächsten drei Wochen alle Weihnachtsbaumständer, die man je in seinem Leben erworben hat, spontan wieder auftauchen, meist, indem sie einem vom oberen Ablagebord eines Schranks aufs Haupt fallen, während man auf dem Bodenfach herumstöbert. Manchmal lauert einem aber auch einer mitten in einem dunklem Zimmer oder oben an der Flurtreppe auf. Wenn man es nicht schon weiß, kapiert man es spätestens jetzt: Weihnachtsbaumständer sind ein Werk des Satans, und sie wollen einen - tot und nicht lebendig. Da man schon einmal im Eisenwarenladen ist, kauft man zwei neue Lichterketten, die auch nicht funktionieren werden.

An Leib und Seele ermattet, schafft man es endlich, den Baum aufzustellen, mit allerlei Flitterkram zu behängen und zum Leuchten zu bringen. Gebückt wie der Glöckner von Notre Dame steht man davor und betrachtet ihn mit verhaltener Abscheu.
„Oh, wie hübsch!“ schreit die Gattin, schlägt die Hände verzückt unterm Kinn zusammen und verkündet: „Jetzt lass uns draußen den Schmuck anbringen. Dieses Jahr hab ich uns was besonders Schönes gegönnt - einen Weihnachtsmann in Lebensgröße für den Schornstein. Hol mal die Zwölfmeterleiter und ich pack die Kiste aus. Ach, was macht das Spaß!“ Und sie hopst los.

Sie können mich nun mit gutem Grund fragen: Warum machen sie das alles immer mit? Warum klettern sie auf den Dachboden, wenn sie doch wissen, dass der Schmuck nicht dort liegt? Warum futzeln sie die Lichterketten auseinander, wenn sie nie im Leben funktionieren? Und meine Antwort darauf lautet: Es gehört zum Ritual. Ohne das wäre Weihnachten nicht Weihnachten.
Und deshalb habe ich mich entschlossen, jetzt anzufangen, obwohl Mrs. Bryson noch keine Order erteilt hat. Es gibt Dinge im Leben, die man tun muss, ob man will oder nicht. Falls sie mich gleich für irgendwas brauchen, ich hänge in der Dachluke.
[
Bill Bryson; Streiflichter aus Amerika - Die USA für Anfänger und Fortgeschrittene; Goldmann Verlag]

Ob man es nun glaubt oder nicht, das war noch nicht einmal die „beste“ Kolumne. Wenn sie „Der Katastrophentourist“ aus seinem Buch gelesen haben, wissen sie, was ich meine.

Ciao,
Euer Campi

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