1907 - Panik an der New Yorker Börse
von Carsten Lexa
31.08.2003

1903 begannen in den USA die Aktienkurse kräftig zu steigen. Der zur damaligen Zeit noch junge Dow Jones Industrial Index, in dem sich neben Aktien aus anderen Industriezweigen vor allem Eisenbahnaktien befanden, kletterte stetig nach oben. Die Marke von 100 Punkten wurde am 12. Januar 1906 das erste Mal überschritten (zum Vergleich: am 26. Mai 1896, dem Start des Dow Jones Industrial Index, wurden ein Index-Stand von 40,74 Punkten berechnet); dabei blieb es dann aber auch in den Folgemonaten, der Index tendierte eher leicht fallend.

Am Morgen des 18. April 1906 gegen fünf Uhr, wurde San Francisco von einem 40 Sekunden andauernden heftigen Erdstoß erschüttert. Kurze Zeit später kam es zu einem weiteren Stoß, welcher 8,3 auf der Richterskala erreichte und stärker war als der erste.
Zunächst hatte es den Anschein, als ob die Stadt beide Erdstöße gut überstanden hätte: die Region um San Francisco galt als eines der erdbebengefährdetsten Gebiete der Welt, und die Bewohner waren entsprechend vorgewarnt.
Doch bald lösten Kurzschlüsse an beschädigten Stromleitungen und geborstenen Gasrohren kleine Brände aus, die sich rasch zu einer Feuersbrunst ausbreiteten, da das Beben das gesamte Wasserleitungsnetz der Stadt zerstört hatte. Erst drei Tage später erlosch das Feuer und hinterließ eine Ruinenstadt mit 30.000 zerstörten Häusern. 500 Menschen fanden den Tod, der Gesamtschaden wurde auf 600 Millionen Dollar geschätzt.

Die Aktienmärkte blieben zuerst ganz ruhig, wie gelähmt, aber Ende April erfasste eine Panikwelle die Börse. Die Eisenbahn- und die Industriewerte verloren binnen Tagen 20% an Börsenwert. Besonders schlimm traf es die Versicherungswerte, die die enorme Schadenssumme aufbringen mussten. Die Rückstellungen bei vielen Finanzinstituten wurden nahezu aufgezehrt - die damalige größte Brandversicherungsgesellschaft in den USA, die Aetna Fire Insurence Company, meldete, dass die Brandkatastrophe die Ersparnisse von 40 Jahren aufgezehrt hatte.
Jedoch konnten die größten Wertverluste bis Jahresende wieder aufgeholt werden. Ende 1906 aber kam die Aufwärtsbewegung erneut zum Stillstand.

Im Januar 1907 kam es zu größeren Aktienverkäufen, obwohl die Gewinne der Eisenbahngesellschaften neue Rekordhöhen erreichten. In den folgenden Monaten erschütterten weitere Ereignisse die Börse. So kam es im März zur so genannten "Panik der Reichen", als die Aktien der Union Pacific, in kurzer Zeit einen Großteil ihres Wertes einbüßten. Am 14. März stürzte der Dow Jones um 8,3% ab. Und bis Oktober erfolgten weitere Schläge, die zu Beben an der Börse führten, noch allerdings ohne zu einer allgemeinen Panik zu führen: Im Juni 1907 scheiterte die Ausgabe einer Anleihe der Stadt New York. Die Anleihe hatte ein Volumen von 29 Millionen und war mit 4% verzinst. Gezeichnet wurden aber nur 2 Millionen. Im Juli 1907 brach der Kupfermarkt zusammen. Und im August 1907 wurde die Gesellschaft Rockefellers, die Standart Oil Company, zu einer Geldstrafe von 29 Millionen Dollar verurteilt wegen Verstößen gegen das Antitrustgesetz. All diese Ereignisse verhallten ohne größere Auswirkungen an der Börse.

Ende Oktober jedoch war der Markt nervös. Zwar hatten die vorgenannten Ereignisse keine größeren Auswirkungen auf die Kurse, aber die Psyche der Marktteilnehmer war angeschlagen. Am Montag, den 21. Oktober 1907, gab die National Bank of Commerce am späten Nachmittag bekannt, dass die die Einlösung der Knickerbocker Trust Company, der damals drittgrößten Bank New Yorks, ab sofort verweigert. Jetzt drohte eine Panik. J.P. Morgan organisierte ein Treffen mit den Vorsitzenden der New Yorker Banken, um Abwehrmaßnahmen zu treffen. Eine Einigung konnte aber nicht erzielt werden, die Banker blieben untätig. Am 22. Oktober begann der Ansturm auf die Knickerbocker Trust Company, die innerhalb von drei Stunden mehr als 8 Millionen Dollar an Bargeld ausgeben musste. Kurz nach Mittag stellte sie ihre Arbeit ein. Am Mittwoch, dem 23. Oktober, geriet die zweitgrößte Bank New Yorks, die Trust Company of America, in den Sog der panischen Massen. Die "New York Times" hatte in einem Artikel vor Problemen des Bankhauses gewarnt, weshalb auch hier von den Bewohnern New Yorks gewaltige Mengen Geldes abgezogen wurden. Insgesamt verlor die Bank 47,5 Millionen ihrer 60 Millionen Dollar-Reserve.

Am 24. Oktober 1907 schließlich erreichte die Panik die New Yorker Börse. Zuerst waren die so genannten "Call Loans" dran, die begrenzten, jederzeit kündbaren Kredite, die Banken den Maklerhäusern zur Verfügung standen. Mit ihnen wurden Margin-Konten finanziert, die Makler von ihren Kunden forderten. Diese Call Loans wurden an der Börse am "Money Post" täglich zwischen 12 und 14.15 Uhr abgewickelt, wenn sich die Banker einfanden, um Kredite an die Broker weiterzuleiten. Am 24. Oktober jedoch gab es nicht genügend Mittel, um die Nachschussforderungen der Makler zu befriedigen. Geld war nicht mehr zu bekommen, und wenn, dann nur gegen Zinsforderungen von 100-150%. Doch selbst zu diesen Zinsen wurde Geld nur zögerlich zur Verfügung gestellt. Die Panik war perfekt.

Jesse Livermore beschrieb in seinem Buch "Das Spiel der Spiele" die Geschehnisse an jenem Tag: "……(Ein befreundeter Broker sagte an jedem Tag zu ihm:) Nirgendwo Geld; man kann seine Aktien nicht verkaufen, denn es gibt niemanden, der sie kaufen könnte. Wall Street ist bankrott, wenn Du mich fragst." Nach Livermores Worten war es die schlimmste Panik in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Erst durch das schnelle Eingreifen J.P. Morgans, der mit der Hilfe verschiedener Banken einen Kredit von 10 Millionen Dollar zur Verfügung stellte, wurde die Situation entspannt. Die Liquidität am Aktienmarkt konnte dadurch aufrecht gehalten werden, und der Verkaufsdruck der Kunden ließ langsam nach. Auch die Bankenszene in New York stabilisierte sich wieder, aufgrund der Zusammenarbeit verschiedener großer Banken wie Morgan, Baker und Stillman, sowie anderer Quellen wie etwa J.D. Rockefeller, welche die dringend benötigten Finanzmittel zur Verfügungstellten.

Dennoch ging das Jahr 1907 in die Geschichte ein als eines der schlimmsten Jahre in der amerikanischen Börsengeschichte. Zum Jahresende notierte der Dow Jones bei 58,75 Punkten, ein Minus von 37,73% im Jahresvergleich.

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